Steen Jakobson, Saxo Bank, 27.10.2013
Seit einiger Zeit beginne ich meine Reden immer mit dem Satz: „In den letzten 30 Jahren, seit ich im Markt aktiv bin, war ich noch nie so optimistisch – und sei es nur deshalb, weil es nicht mehr schlimmer werden kann.“
Stimmt das überhaupt? Und noch wichtiger: Wie kann es uns gelingen, von der aktuellen Zeitschinderei – die nicht nur in Europa, sondern auch im Rest der Welt vorherrscht – wieder wegzukommen?
Ein Blick in die Geschichte verrät uns, dass wirkliche Veränderungen immer nur das Ergebnis von Kriegen, Hungersnöten, Bürgerunruhen oder Aktienmarkt-Zusammenbrüchen sind. Aber nichts von dem stellt für die den überwiegenden Teil der Welt heute ein Problem dar – noch nicht zumindest. Anderseits hatten wir seit dem Zweiten Weltkrieg aber auch noch nie so wenig Wachstum, eine so schlechte Demographie oder eine so hohe Arbeitslosigkeit wie heute. Das ist das echte Paradox, das irgendwie gelöst werden muss, und zwar schnell, wenn wir verhindern wollen, dass eine ganze Generation an europäischen Jugendlichen vor die Hunde geht.
Die politischen Entscheidungsträger versuchen uns weißzumachen, dass aufgrund ihrer Maßnahmen bedeutende Fortschritte und Stabilität erreicht worden sind, aber aus fundamentaler Sicht ist das nichts weiter als eine Illusion.
Die italienischen Banken halten heute mehr Staatsschulden als vor der Bankenkrise. Sie sind den vom Staat ausgehenden Risiken heute also noch stärker ausgesetzt, nicht weniger. Die Zinsdifferenzen zwischen deutschen Staatsanleihen und den Anleihen der Euroländer des Mittelmeerraums sind auf historische Tiefststände gesunken, aber der „Preisfindungsmechanismus“ des Geldes ist auch komplett ausgehebelt worden.
Der Preisfindungsmechanismus des Geldes ist der grausame kapitalistische Teil eines jeden Systems. In einem Wirtschaftslehrbuch würde man es vielleicht den Modus Operandi nennen, mit dem das Kapital dorthin verteilt wird, wo es seinen höchsten Grenznutzen hat. In der Praxis sollte das eigentlich bedeuten, dass der Markt den Preis des Geldes für Zeiträume von über einem Jahr festlegt, während der Preis des Geldes bei Laufzeiten von unter einem Jahr von den Zentralbanken festgelegt wird. Das Wunderbare an diesem System ist, dass das Geld an den höchsten Bieter geht – dieser bekommt sein „Geld“ oder seinen „Kredit“ für den Preis, der seinem erwarteten Preis für Geld entspricht.
Und nun vergleichen Sie dieses marktbasierte Modell mal mit der aktuellen „Erfolgsgeschichte“ der relativ geringen Zinsspreads in Europa, die auf das Versprechen des EZB-Präsidenten Mario Draghi zurückgehen, „alles Notwendige“ zu tun, um den Euro vor Schwierigkeiten zu bewahren. Draghi hat damit gedroht, den EFS, den ESM und das volle Arsenal geldpolitischer Werkzeuge zum Einsatz zu bringen, um die Stabilität zu gewährleisten.
Dadurch hat er den Preisfindungsmechanismus bei Staatsanleihen und beim Geld im Grunde ausgehebelt, da die Europäische Zentralbank und die Zentralbanken der einzelnen Mitgliedsländer den Banken (und somit auch ihren Regierungen) nun unter jedweden Marktbedingungen unbegrenzte Mengen an Liquidität bereitstellen. Diese einseitige Stützungsmaßnahme der EZB bedeutet, dass es jetzt keine Möglichkeit mehr gibt, die Staaten mittels höherer Zinsen oder allgemein gesprochen mittels der Kreditallokation zu disziplinieren. Der Preis des Geldes wurde einfach vom Markt abgekoppelt.
Und das geschah nach Draghis LTRO-Programm, bei dem es sich um eine billige Finanzierungsmöglichkeit für die Banken handelt, bei der sie kaum oder keine Kreditsicherheiten hinterlegen müssen, was im Grunde quantitative Lockerung ist, ohne dass man es quantitative Lockerung nennt.
Und das ist ein Problem, weil die Unternehmen, die langfristige Projekte wie den Bau eines Kraftwergs über 6 bis 8 Jahre finanzieren wollen, die Kreditkosten für die Gelder ermitteln müssen, die sie während der Bauzeit benötigen. Aktuell haben sie eine flache Renditekurve, die sich von null bis 30 Jahre erstreckt – was an sich völlig in Ordnung wäre, wenn es sich dabei um eine realistische Renditekurve handeln würde. Das Problem ist nur, dass sich die Zinsen eines Tages in „ferner Zukunft“, wenn sich der Markt wieder normalisiert, wohl wieder ihrem normalen Niveau annähern werden, das sich mehr oder weniger aus der Inflation und einem Risikoaufschlag ergibt.
Im Falle eines Industrieunternehmens sähe eine vernünftige Kreditkostenkalkulation ungefähr so aus: Inflation + Libor + Risikoaufschlag. Dann käme man vielleicht auf einen Zins von rund 7%. So, und nun vergleichen Sie das mal mit den Kreditraten, die hochsolvente Unternehmen derzeit bekommen. Nestlé konnte jüngst eine vierjährige Unternehmensanleihe mit einer Rendite von 0,75% platzieren, das ist die niedrigste Rendite aller Zeiten. Ja, schön für Nestlé, aber wir dürfen hier ja nicht vergessen, dass dieser Zinssatz nicht allein auf die Stärke von Nestlé zurückgeht, sondern die Situation durch die Anwesenheit der Zentralbanken im Markt geschaffen wurde.
Ein Zinsanstieg von weniger als 1% auf 7% würde den Unternehmen einen entsetzlichen Schock bescheren. Und hier wurde nicht nur für die Anleger ein Teufelskreis geschaffen, sondern auch für die Unternehmen, die darauf angewiesen sind, dass die Zinssätze auf immer und ewig unten bleiben. Ihre künftigen Gewinnerwartungen und Kostenschätzungen basieren auf der Annahme, dass der Staat den Preis stützt, nicht etwa auf realistischen Zahlen.
Das Schlimmste an der Situation ist aber der Grund, warum sich ein Großkonzern wie Nestlé für unter 1% Geld leihen kann: Der Markt bietet den Banken und Anlegern keine Alternativen. Weniger kreditwürdige kleine und mittelständische Unternehmen, die in vielen Wirtschaftsräumen bis zu 80% der Wirtschaft ausmachen, bekommen keine Kredite. Sie werden angesichts der aktuellen „Marktraten“ als zu riskant erachtet, und das obwohl sie das entscheidende Element sind, um die Lage im Hinblick auf Beschäftigung und Produktivität zu verbessern.
Die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind bereit, billiger, länger, härter und mit einer höheren Risikotoleranz zu arbeiten, um zu überleben. Die verbleibenden 20% der Wirtschaft, die von großen und börsennotierten Unternehmen und Banken besetzt werden, erhalten also 95% aller Kredite und 99% des politischen Kapitals. Mit anderen Worten: Die Großkonzerne bekommen die künstlich niedrigen Zinsen nur deshalb, weil die kleinen und mittelständischen Unternehmen überhaupt keine Kredite bekommen. Und das ist auch der Grund dafür, warum ich bei meinen Reden eingangs immer sage, dass die Lage schon bald besser werden muss … weil sie kaum noch schlimmer werden kann.
Nie zuvor in der Geschichte haben wir auf politischer, unternehmerischer und privater Ebene einen solch zerrütteten Zustand erreicht. Es ist an der Zeit, zu begreifen, warum der Kapitalismus in den 80er Jahren über den Kommunismus gesiegt hat: Es war die stark marktbasierte Wirtschaft, die wiederum auf dem Preisfindungsmechanismus beruht.
Heute kopieren die politischen Entscheidungsträger in ihrer „Weisheit“ alles, was zu einer Planwirtschaft gehört: Zentralplanung und Kontrolle, keine Preisfindung, ein einziger Geld- und Kreditgeber und die Begleiterscheinung, dass dabei kleine und mittelständische Unternehmen und Privatpersonen unterdrückt werden.
Die Geschichte hält eine wichtige Lektion für uns bereit: Das letzte Mal, als die US-Notenbank große quantitative Lockerungsmaßnahmen durchführte, war in den 1940er Jahren. Das niedrige Wirtschaftswachstum und die zurückgehende Inflation kehrten sich erst wieder um, als die US-Notenbank ihre Interventionen aufgrund einer Rezession (die durch Politikfehler und zu lange anhaltende quantitative Lockerungsmaßnahmen herbeigeführt wurde) wieder aussetzte.
2014 könnte der Preisfindungsmechanismus durch eine neue Runde an echten Rezessionen in Deutschland und den USA wiederbelebt werden, was uns dabei helfen würde, die tiefen Wunden zu heilen, die durch das jahrelange Auftürmen von Politikfehlern und die Zeitschinderei geschlagen wurden. Es hat also auch sein Gutes, wenn man ganz unten ankommt: Es kann nur noch aufwärts gehen.