Sicher, die Richter des Bundesverfassungsgerichts sind nicht sonderlich scharf darauf, als die acht Deutschen in die Geschichtsbücher einzugehen, die die größte Währungsunion aller Zeiten zu Fall gebracht haben. Aber das brauchen sie auch nicht, denn gegenwärtig sieht es ganz so aus, als würden die Politiker das auch alleine hinbekommen

Wolf Richter, Testosteronepit.com, 16.07.2012

Jean-Claude Juncker war verzweifelt. Der luxemburgische Premierminister und neu ernannte Präsident der Eurogruppe (die die Finanzminister vereint, um die Kontrolle über den Euro auszuüben) ist der ultimative Machtpolitiker und Insider.

„Wir wissen alle, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie wir danach wiedergewählt werden“, erklärte er einst – ein Ausspruch, der mittlerweile auch als „Juncker-Fluch“ bekannt ist. Aber er weiß ja, wie er wiedergewählt wird. Juncker ist der Staatschef in der Europäischen Union mit der längsten Amtszeit. Seit 1995 ist er Premierminister Luxemburgs. Und wenn er verzweifelt ist, dann schenken ihm sogar die acht Richter des Bundesverfassungsgerichts Gehör.

Juncker verlieh seiner Verzweiflung dadurch Ausdruck, dass er die Entscheidung der Richter kritisierte, sich bei der Prüfung des jüngsten EU-Rettungsfonds, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), entsprechend Zeit zu lassen. Die Verfassungsrichter prüfen gerade, ob der ESM überhaupt verfassungskonform ist. Normalerweise sollte der ESM bereits seit dem 01.07.2012 existieren, aber mittlerweile steckt der EU-Rettungskrampf in einem noch tieferen Schlamassel.

Die Verzögerung des Bundesverfassungsgerichts brachte Juncker auf die Palme. Das sei „nicht hilfreich“, so Juncker am Sonntag gegenüber dem Spiegel. Er forderte die Richter auf, den Entscheidungsprozess zu beschleunigen, und sagte: „Ich denke, sie wissen, in welchen maximalen Zeiträumen wir uns bewegen müssen.“

Im September ist nämlich die Zeit der Entscheidung gekommen: Die Rettungs-Troika – die Europäische Union, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds – wird darüber befinden, ob Griechenland die nächste Tranche an Rettungsgeldern erhalten wird.

Die Chancen stehen schlecht. Griechenland hat die meisten Strukturreformen, deren Implementierung als Teil des zweiten Rettungspakets vereinbart wurde, bisher einfach auf die lange Bank geschoben und nicht umgesetzt, während die Troika nun zunehmend die Geduld verliert.

Sollte die Troika mit Nein entscheiden, wird Griechenland auf seine Schulden die Zahlungsunfähigkeit erklären müssen und aller Vorausschau nach aus der Eurozone austreten. In der Folge würde bei den Banken und Finanzmärkten ein Tsunami wüten.

Es wäre die größtmögliche Brandmauer nötig, um die Ansteckung einzudämmen, wankende Banken zu rekapitalisieren und die Eurozone vor dem Totalzusammenbruch zu bewahren. Der vorübergehende EU-Rettungsfonds EFSF zahlt aber bereits für Griechenland, Irland und Portugal, während Spanien weitere EUR 100 Milliarden zugesagt wurden und auch Zypern auf Hilfsgelder hofft. Und da der EFSF gerade einmal über Rettungsgelder in Höhe von EUR 250 Milliarden verfügt, ist ein Großteil seiner Feuerkraft bereits weg. Deswegen ist Juncker auch so verzweifelt.

Das Bundesverfassungsgericht hat aber bereits nachgegeben: Am Montag versprachen die Verfassungsrichter, die Entscheidungsfindung zu beschleunigen. Die Entscheidung würde nun schon am 12.09.2012 verkündet werden, also in zwei und nicht erst in drei Monaten, wie zuvor bekanntgegeben wurde.

Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Richter komplett einknicken und den ESM einfach durchwinken werden – selbst wenn sie noch ein paar Auflagen machen. Es ist völlig offenkundig, dass sie nicht als die acht Deutschen in die Geschichtsbücher eingehen wollen, die der größten Währungsunion aller Zeiten den Garaus gemacht haben. Das werden sie schon den Politikern überlassen.

Und die Politiker springen sich unterdessen gegenseitig an die Gurgel – eine grandiose Show, die verdeutlicht, wie verworren und irrational das endspielartige Euro-Fiasko mittlerweile geworden ist. Bis heute ist ja anscheinend immer noch nicht klar, wie und in welchem Ausmaß der ESM beim jüngsten EU-Gipfel eigentlich modifiziert wurde.

Klaus Regling, der eingesetzte Chef des ESM, gab bekannt, dass die Banken laut der auf dem EU-Gipfel erzielten Vereinbarung direkt über den ESM gerettet würden. „Dann ist das Land raus aus der Haftung“, so Regling. Juncker und Olli Rehn, der EU-Währungskommissar, stützten seine Auffassung.

Daraufhin kam es überall zu Aufschreien. Sigmar Gabriel, der Vorsitzende der deutschen Oppositionspartei SPD, ohne deren Unterstützung eine Verabschiedung im Parlament schwierig werden würde, drohte, der deutschen Kanzlerin die Unterstützung zu entziehen, wenn sie „die Staatenrettung in eine Spekulantenrettung der Banker verwandeln will“.

Merkel verwarf seine Ausführungen während eines ZDF-Interviews. Die Banken werden keine direkten ESM-Hilfsgelder erhalten, ganz egal, was irgendwer dazu zu sagen hat, so Merkel. Sie sagte, dass die Länder für die Kredite zur Rettung ihrer Banken garantieren müssten – zumindest bis auf Weiteres.

Merkels Sprecher Steffen Seibert bestätigte das später und erklärte: „Der Staat stellt den Antrag, der Staat nimmt das Geld entgegen und der Staat haftet.“ Und das gelte, so Seibert, für den EFSF wie auch den ESM.

Und nun sickerte auch noch durch, dass Merkel dem Parlament wohl einige explosive Details zum spanischen Bankenrettungspaket vorenthalten hat, um es am Donnerstag, wo es im Bundestag zur Abstimmung vorliegt, irgendwie durchzupeitschen.

Von den insgesamt EUR 100 Milliarden soll die erste Tranche in Höhe von EUR 30 Milliarden bereits im Juli gezahlt werden. Doch solange der Bundestag dem nicht zugestimmt hat, ist Finanzminister Wolfgang Schäuble auch nicht in der Lage, beim EFSF – wo die Entscheidungen einstimmig getroffen werden müssen – für die Auszahlung der Gelder zu stimmen. Mit einem Nein des Bundestags wäre das spanische Rettungspaket hinfällig und es würde umgehend Chaos ausbrechen.

Um sicherzustellen, dass das spanische Bankenrettungspaket ungehindert durch den Bundestag segelt, hat Merkel einfach einige Details weggelassen – das behauptet zumindest Frank Schäffler, ein Bundestagsabgeordneter der Koalitionspartei FDP, in einem Brief an den Bundestagspräsidenten Norbert Lammert.

In dem Schreiben bat Schäffler darum, dass Lammert die Bundesregierung auffordert, „der unzulänglichen Unterrichtung des Bundestags abzuhelfen und den Bundestag nunmehr sorgfältig, insbesondere im Hinblick auf die direkte Bankenrekapitalisierung, zu informieren.“

Die Euro-Rettungsstrategie – die in Deutschland zurzeit so ungewiss scheint – hat sich also in ein Desaster aus Zerwürfnissen und Streitigkeiten verwandelt. Ja selbst grundlegendste Dinge wie der Inhalt der Vereinbarung des letzten EU-Gipfels führen zu erbitterten Auseinandersetzungen, was ein Hinweis darauf ist, dass man von einer Lösung gegenwärtig weiter entfernt ist denn je.

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner