Den Eurokraten ist jedes Mittel recht, um den Euro zu retten. Der Wille der Menschen wird dabei mit Füßen getreten

Wolf Richter, Testosteronepit.com, 19.11.2012

Die Schuldenkrise in der Eurozone fordert ihren Tribut. Mit den verschachtelten undemokratischen steuerzahlerfinanzierten Rettungspaketen für die Anleihehalter und Banken, die darauf abzielen, die Eurozone zusammenzuhalten, ist man nicht mehr länger in der Lage, genügend Zeit herauszuschinden.

Aber der Preis dafür ist riesig, und die Menschen haben ihrer Wut bereits in massiven Protesten Ausdruck verliehen. Und jetzt zerstören diese Rettungsbemühungen auch den Zusammenhalt unter den 27 Mitgliedern der Europäischen Union: Großbritannien könnte der erste Kandidat sein, der austritt.

Würde man die Briten selbst darüber abstimmen lassen, würden sich 56% von ihnen für einen EU-Austritt Großbritanniens entscheiden (34% wären definitiv dafür und 22% aller Vorausschau nach). Nur 30% der Briten würden dafür stimmen, dass Großbritannien in der EU verbleibt. Es wäre nicht mal ansatzweise ein knappes Rennen – es wäre ein Erdrutschsieg! Käme es in Großbritannien heute zu einem Referendum, würde das Land – ein entscheidender Eckpfeiler der Europäischen Union – die Beine in die Hand nehmen.

Die Europäische Union hat aber nur wenig Verständnis für den Willen der Menschen. In den meisten EU-Mitgliedsländern werden Entscheidungen wie die Ratifikation von EU-Verträgen, die Abschaffung der eigenen Währung oder die Rettung der Halter von Staatsanleihen auf parlamentarischer Ebene getroffen. Aber in den Fällen, wo man den Menschen die Entscheidung überlies, wiesen sie die hässliche Tendenz auf, die Elite – also die Politiker, Banker und nichtgewählten Bürokraten, die die Show leiten – zu überraschen.

Mit dem Vertrag von Lissabon, dem Meisterstück der politischen EU-Elite, sollten die bestehenden Verträge eigentlich aufgelöst und durch eine europäische Verfassung ersetzt werden. Dadurch wären bedeutende Teile der nationalen Souveränität an die nichtgewählten EU-Bürokraten und ihre Institutionen abgetreten worden. Die Verhandlungen begannen 2001 und bis 2005 hatte die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten den Vertrag bereits parlamentarisch ratifiziert.

In Frankreich erhielten die Menschen jedoch die Möglichkeit, den Vertrag mittels eines Referendums zu ratifizieren – nachdem das Parlament ihn bereits mit 93% aller Stimmen verabschiedet hatte. Was eigentlich ein Kinderspiel hätte werden sollen, verwandelte sich dann in eine epische Schlacht, die dazu führte, dass sich die Sozialistische Partei aufspaltete.

Und die Franzosen, die ihre Souveränität lieben und daran festhalten wollten, entschieden sich „ganz unerwartet“ dafür, dem Vertrag mit 55% Nein-Stimmen den Garaus zu machen. In den Niederlanden fand ähnliches statt, und 2005 war das Jahr, wo „Referendum“ zu einem der furchtbarsten Wörter im europäischen Polit-Lexikon wurde.

Diese Lektion brannte sich ein: Lass nie den Pöbel entscheiden! Solche Themen sollten von Politikern, Bankern und nichtgewählten Bürokraten geregelt werden. Und so machten sie sich an die Schadenskontrolle.

Zahlreiche Maßnahmen, die sich in der gescheiterten EU-Verfassung fanden, überlebten als Reformen des verwässerten Vertragswerks. Das war in 2008. Und als Vorsichtsmaßnahme durften die dreisten Franzosen und Niederländer auch nicht mehr darüber abstimmen. Die irischen Wähler durften aber noch. Und sie sagten nein. Auch sie hingen an ihrer Souveränität.

Doch dann schlug die Finanzkrise zu. Die Iren bekamen es mit der Angst zu tun. Ihre Banken steckten in Schwierigkeiten. Die Wirtschaft ging auf Talfahrt. Also wurde ein zweites Referendum durchgeführt, nachdem die irische Regierung einige Konzessionen ausgehandelt hatte, und die Menschen änderten ihre Meinung. Der Vertrag trat dann am 01.12.2009 in Kraft.

Nichts wird von europäischen Politikern mehr gefürchtet als ein Referendum. Es ist eine Bedrohung ihrer Macht. Im November 2011 versuchte der griechische Premierminister George Papandreou genau diese Angst auszuschlachten, um weitere Steuerzahlergelder aus dem Ausland zu erhalten. Am Rande des G20-Treffens ließ er beiläufig einen Satz fallen – doch dieser Satz beinhaltete die mächtigste Drohung, die man sich vorstellen kann: Ein Referendum in Griechenland. Er wollte die Griechen über die Austeritätsmaßnahmen, die ihnen zurzeit die Luft abschnüren, abstimmen lassen.

Diese Drohung sorgte an den weltweiten Finanzmärkten für heftige Turbulenzen. Der Euro brach ein. Italienische und französische Anleiherendite schossen in die Höhe. Es entstand sogar ein neues Wort: Papandämonium.

Die Sache wurde dann aber rasch geregelt. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy luden Papandreou zu einem französischen Abendessen ein. Nach dem Essen erklärten eine grimmig dreinblickende Merkel und ein Grimassen schneidender Sarkozy, dass das Referendum vom Tisch sei. Sie würden die Rettungsgeldzahlungen an Griechenland aussetzen. Und erstmals sprachen sie auch von einem möglichen Austritt Griechenlands aus der Eurozone. Es war eine wahre Glanzleistung.

In Griechenland brach das parlamentarisches Chaos aus. Politiker aus Papandreous eigener Partei rebellierten gegen ihn. Er wurde aus dem Amt geworfen. Und bis der Interimspremier im Amt war, war das Thema Referendum bereits komplett beerdigt worden.

Politiker hassen die Vorstellung, den Menschen die Möglichkeit einzuräumen, ihre delikaten Pläne zu sabotieren, die mit so viel Finesse und wunderschönen Nebenvereinbarungen hinter verschlossen Türen ausgeheckt wurden.

Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch nicht in Großbritannien. Eine der zahllosen Ironien der Europäischen Union ist, dass der britische Premierminister David Cameron – genau wie all die anderen herrschenden EU-Politiker – alles in seiner Macht stehende tun würde, um ein Referendum zu verhindern. Und wäre er nicht in der Lage, ein Referendum zu verhindern, würde er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dafür kämpfen, dass Großbritannien in der EU verbleibt – selbst wenn er sich dadurch von einem Großteil seiner eigenen Wählerbasis und weiten Teilen der Öffentlichkeit entfremden würde.

Die Briten haben natürlich ihre Gründe dafür, warum sie gegenüber der EU-Regierung, die immer mehr in britische Angelegenheiten hineinregiert, misstrauisch sind. Und trotzdem hat die EU 27 Länder unter sich vereint, deren Völker, lange bevor an das Konzept des Nationalstaats überhaupt zu denken war, Krieg gegeneinander führten.

So gesehen und auch in vielerlei anderer Hinsicht war die Europäische Union ein phänomenaler Erfolg. Bis zum Ausbruch der Euro-Schuldenkrise. Und jetzt, wo die Länderfamilie wegen des Euros – der sich in ein Glaubensbekenntnis verwandelt hat – auseinanderzubrechen droht, ist kein Preis zu hoch, um ihn zu retten.

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