Umfrage-Debakel in Frankreich

Wolf Richter, Testosteronepit.com, 27.01.2013

Die Amerikaner sind zynisch, was ihre Politiker anbelangt. Beispielsweise verharrte die Zustimmungsrate des US-Kongresses in 2012 mehr oder minder im einstelligen Prozentbereich und kletterte gerade zwei Mal auf die Marke von 10%. Das ist pure Verachtung. Aber die Franzosen – deren Wirtschaft immer weiter in die Krise abtaucht, die vor fünf Jahren ihren Anfang nahm – bringen ihre Verachtung gegenüber der politischen Klasse, wie sie sie nennen, auf andere Art zum Ausdruck: Mit dem Wunsch nach autoritärer Führung, einem „echten Führer“, der „die Ordnung wiederherstellt“.

Die von Ipsos und anderen für die Tageszeitung Le Monde durchgeführte Umfrage „Frankreich 2013: Die neuen Spaltungen“ sorgte für eine Welle an Nabelschau und politischen Manövern. Erklärungen und Rechtfertigungen fanden sich überall, während die Frustration auf allen Seiten hochkocht: Die Arbeitslosenrate liegt bei über 10%; was höchstens noch von den Werksschließungen und Stellenstreichungen, speziell in der Autobranche, getoppt wird; ein von feindlicher Rhetorik begleiteter Steuer-Exodus usw. usf.

Dem kulturellen und wirtschaftlichen „Niedergang“ Frankreichs wurde die Bühne bereitet: 51% der Befragten sind der Meinung, dass ein weiterer Niedergang Frankreichs in den kommenden Jahren „unvermeidlich“ ist. Unter denen, die den rechtsgerichteten Front National (FN) unterstützen, sind 77% dieser Auffassung. Im Vergleich dazu sind die Unterstützer der Sozialistischen Partei (PS) vom französischen Präsidenten François Hollande wahre Draufgänger: Nur 41% erachteten den Niedergang als „unvermeidlich“ – immer noch erschreckend.

Und das ist kein neuer Trend, den Hollande vielleicht während seiner seit acht Monaten andauernden Präsidentschaft ausgelöst haben könnte. Laut der Umfrage ist dieser Trend bereits seit zehn Jahren zu beobachten, einer Periode also, wo im Élysée-Palast die meiste Zeit über konservative Präsidenten herrschten, und einer Periode, wo die Franzosen bereits den Euro in ihren Geldbörsen hatten. Ernüchternde 63% sind der Auffassung, dass der „kulturelle Einfluss Frankreichs“ während der letzten zehn Jahre zurückgegangen ist; und atemberaubende 90% glauben, dass die „wirtschaftliche Macht Frankreichs“ zurückging.

Und sie geben der „Globalisierung“ die Schuld, die von 61% als „Bedrohung Frankreichs“ wahrgenommen wird, wobei die Meinungen hier weit auseinanderklaffen: 82% der Rechten, 49% der Unterstützer von Sarkozys Mitte-Rechts-UMP und 53% der Sozialisten sind dieser Meinung. Und die Lösung? 58% stimmten der Aussage zu, dass Frankreich sich „mehr vor der Welt schützen“ müsse. Die Zustimmung schwankte hier zwischen 38% unter den Anhängern der PS und 92% unter den Anhängern des FN.

Und dann tauchte noch eine ganze Litanei weiterer besorgniserregender Probleme auf: 62% sind der Auffassung, dass „die meisten Politiker korrupt sind“ – die anderen 38%, wetterte die FN-Präsidentin Marine Le Pen, seien „Optimisten“; 72% beschwerten sich darüber, dass das „demokratische System in Frankreich schlecht funktioniert“; und 82% erklärten, dass die „Politiker vornehmlich im Eigeninteresse handeln.“

Dankenswerterweise bot die Umfrage den unglücklichen und frustrierten Umfrageteilnehmern auch einen Leckerbissen und eine einfache Lösung an: „Wir brauchen ein echten Führer in Frankreich, um die Ordnung wiederherzustellen.“ 87% stimmten zu!

Die Tageszeitung Le Monde wollte uns dann mehr schlecht als recht glauben machen, dass das nicht überraschend sei, dass es sich dabei in Wirklichkeit nur um einen weiteren logischen Schritt einer Gegenbewegung handeln würde – ein Gegentrend, der als Reaktion auf die antiautoritäre Bewegung der 60er und 70er Jahre entstanden ist.

Der Wunsch nach einem „echten Führer“, der die „Ordnung wiederherstellen“ würde, wurde von der Rechten praktisch einhellig geäußert. Unter den UMP-Anhängern lag die Zustimmungsrate bei 98%. Sarkozy, ihr Mann, hatte in 2007 mit der Widerherstellung der Ordnung Wahlkampf gemacht und dann als Präsident versucht, ein starker Führer zu sein. Stattdessen verhedderte er sich jedoch in der Finanzkrise und der daraufhin einsetzenden Schuldenkrise. Und bis 2011 befand sich die französische Wirtschaft wieder im Sinkflug. Er wurde von den enttäuschten Franzosen dann aus dem Amt geworfen.

Die Unterstützer des Front National stimmten der Forderung nach einem „echten Führer“ zur „Wiederherstellung der Ordnung“ mit 97% zu. „Es wäre in der Tat höchste Zeit dafür“, scherzte Marin Le Pen, während sie detailliert ausführte, dass die Umfrageergebnisse praktisch genau das widerspiegeln würden, was der Front National die ganze Zeit über gesagt hat.

Ja und selbst unter den Sozialisten fanden sich immer noch 70%, die nach einem echten Führer verlangen, der die Ordnung wiederherstellt. Sarkozy ist gescheitert; jetzt ist Hollande am Zug. Doch Hollande hat schneller an Popularität verloren als Sarkozy.

Die Umfrage verknüpfte den Wunsch nach einem „echten Führer“, der die „Ordnung wiederherstellen“ würde, mittels einer ansonsten unverfänglichen Frage mit dem Konzept der autoritären Herrschaft: „Autorität ist ein Wert, der heute zu oft kritisiert wird.“ Und 86% stimmten dieser Aussage zu; die Franzosen wollen einen Diktator, der ihre Probleme löst.

„Das ist eine bedeutende Ablehnung des demokratischen Systems“, kommentierte Ipsos das Umfrage-Debakel.

Die Umfrage stach aber auch in anderen Bereichen ins Wespennest. Beispielsweise trat zutage, welch geringes Vertrauen die Franzosen den französischen Massenmedien entgegenbringen: 73% sind der Meinung, dass die Journalisten gegenüber politischen Druck kleinbeigeben. Und auch die Verbitterung der Franzosen gegenüber den Immigranten trat offen zutage, und man verhedderte sich sogar im dornigen Gestrüpp der Religion, speziell dem des Islams, der von 74% aller Befragten als intolerant bezeichnet wurde.

Die Umfrage „zeichnet ein viel düstereres Bild des Landes“, warnte Le Monde. Die französische Gesellschaft „rutscht gerade von Misstrauen in die Ablehnung, von Besorgtheit in die Angst, von Rückzug in die Angst vor den Anderen, von Pessimismus in den Katastrophismus ab.“

„Die Auswirkungen der Krise sind nicht überraschend, aber es ist verblüffend, wie tiefgreifend die Angst geworden ist“, sagte Pascal Perrineau, der Direktor des Zentrums für politische Studien an der Sciences Po, das an der Durchführung der Umfrage beteiligt gewesen ist. Und er sagte, dass „die Vorbehalte Feindseligkeiten Platz gemacht haben.“

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