Ludwig von Mises, „Liberalismus“, 1927
Kapitel II (4) „Die Undurchführbarkeit des Sozialismus“
Man pflegt den Sozialismus gewöhnlich darum für undurchführbar zu halten, weil man meint, den Menschen fehlten die sittlichen Eigenschaften, die die sozialistische Gesellschaftsordnung verlange. Es sei zu befürchten, dass in der sozialistischen Gesellschaftsordnung die meisten Menschen nicht jenen Eifer in der Besorgung der ihnen übertragenen Geschäfte und Arbeiten an den Tag legen werden, den sie in der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnung aufbringen.
In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, weiß jeder einzelne, dass die Frucht seiner Arbeit ihm selbst zufällt, dass sein Einkommen wächst oder sinkt, je nachdem der Ertrag seiner Arbeit größer oder kleiner ist. In der sozialistischen Gesellschaftsordnung werde jeder einzelne denken, dass es auf seine Arbeitsleistung weniger ankomme, da ihm doch ein aliquoter Teil des Gesamtertrages der Arbeit aller zukommt, die Höhe des Gesamtertrages aber durch den Ausfall, der aus der Lässigkeit eines Mannes entspringt, nicht merklich beeinträchtigt werden könne. Wenn solche Gesinnung, wie zu befürchten ist, allgemein wird, dann werde die Ergiebigkeit der Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen sehr beträchtlich sinken.
Der Einwand, der damit gegen den Sozialismus erhoben wird, ist durchaus begründet, aber er trifft nicht den Kern der Sache. Wäre es, im sozialistischen Gemeinwesen möglich, den Ertrag der Arbeit eines, jeden einzelnen Genossen mit der gleichen Schärfe zu ermitteln, in der dies die Wirtschaftsrechnung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung besorgt, dann wäre die Durchführbarkeit des Sozialismus nicht von dem guten Willen jedes einzelnen Genossen abhängig; die Gesellschaft wäre in der Lage, die Beteiligung der einzelnen Genossen am Ertrage der gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit innerhalb gewisser Grenzen nach der Höhe der von ihnen geleisteten produktiven Beiträge abzustufen.
Dass in einer sozialistischen Gesellschaft in der Wirtschaft überhaupt nicht gerechnet werden kann, das macht jeden Sozialismus undurchführbar. In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gibt es in der Rentabilitätsrechnung eine Richtschnur, die dem einzelnen anzeigt, ob die Unternehmung, die er betreibt, überhaupt unter den gegebenen Verhältnissen zu betreiben ist und ob sie in der Weise betrieben wird, wie sie am zweckmäßigsten, d. h. mit dem geringsten Aufwand an Mitteln betrieben werden kann.
Wenn ein Unternehmen sich als unrentabel erweist, so heißt das: es gibt Unternehmungen, die die Rohstoffe, Halbfabrikate und die Arbeit, die in ihm verwendet werden, einem vom Standpunkt der Konsumenten dringenderen und wichtigeren Zweck oder aber dem gleichen Zweck in wirtschaftlicherer Weise (d. h. mit geringerem Aufwand von Kapital und Arbeit) zuführen. Wenn z. B. die handwerksmäßige Weberei sich als unrentabel herausgestellt hat, so bedeutet dies: in der mechanischen Weberei bringen das verwendete Kapital und die verwendete Arbeit höheren Ertrag, es ist mithin unwirtschaftlich, an einer Produktionsweise festzuhalten, wo der gleiche Aufwand von Kapital und Arbeit geringeren Ertrag abwirft.
Wird ein neues Unternehmen geplant, so kann man im Voraus berechnen, ob es überhaupt und in welcher Weise es rentabel geführt, werden kann. Hat man etwa die Absicht, eine Eisenbahnlinie zu erbauen, so kann man, indem man Schätzungen über den zu erwartenden Verkehr und die Fähigkeit dieses Verkehres, Frachtsätze zu zahlen, anstellt, berechnen, ob es lohnt, Kapital und Arbeit in das Unternehmen zu stecken. Stellt es sich heraus, dass der Bahnbau keine Rentabilität verspricht, so heißt das soviel wie: es gibt andere, dringendere Verwendung: Für das Kapital und die Arbeit, die der Bahnbau kosten würde; die Welt ist noch nicht reich genug, um diesen Bahnbau leisten zu können.
Aber die Wert- und Rentabilitätsrechnung gibt nicht nur den Ausschlag, wenn die Frage auftaucht, ob ein bestimmtes Unternehmen überhaupt zu beginnen sei oder nicht; sie kontrolliert jeden einzelnen Schritt, den ein Unternehmer macht.
Die kapitalistische Wirtschaftsrechnung, die uns allein rationelle Produktion ermöglicht, beruht auf der Geldrechnung. Nur weil es für alle Waren und Dienstleistungen auf dem Markt Preise gibt, die in Geld ausgedrückt werden, können die verschiedenartigsten Güter und Arbeitsleistungen in eine einheitliche Rechnung eingehen. Die sozialistische Gesellschaftsordnung, bei der alle Produktionsmittel in dem Eigentum der Gesamtheit stehen, die demgemäß keinen Marktverkehr und keinen, Austausch von Produktivgütern und -diensten kennt, kann auch keinen Geldpreis für Güter höherer Ordnung und für die Arbeitsleistung kennen.
In ihr müsste daher das Mittel der rationellen Betriebsführung, die Wirtschaftsrechnung, fehlen. Denn die Wirtschaftsrechnung kann ohne einen gemeinsamen Nenner, auf den alle verschiedenartigen Güter und Dienstleistungen zurückgeführt werden, nicht bestehen.
Man stelle sich einmal einen ganz einfachen Fall vor. Bei einem Eisenbahnbau sind mehrere Linienführungen denkbar. Zwischen A und B liegt z.B. ein Berg. Man kann die Bahn über den Berg fahren, man kann sie um den Berg herumführen und man kann sie in einem Tunnel durch den Berg durchführen.
In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist es ein Leichtes, zu berechnen, welche Linie am rentabelsten ist. Man ermittelt die Baukosten, die jede der drei Linien erfordern würde, und die Differenz der Betriebskosten, die der Verkehr auf jeder von ihr erfordern wird. Aus diesen Größen ist dann unschwer festzustellen, welche Strecke die rentabelste sein wird.
Für die sozialistische Gesellschaftsordnung wären solche Rechnungen nicht durchführbar. Denn sie hätte keine Möglichkeit, die verschiedenartigen Qualitäten und Mengen von Gütern und von Arbeit, die hier in Betracht kommen, auf ein einheitliches Maß zu reduzieren. Vor den gewöhnlichen und alltäglichen Problemen, die die Wirtschaftsführung bietet, würde die sozialistische Gesellschaftsordnung ratlos dastehen, da sie keine Möglichkeit hätte, rechnerische Kalkulation vorzunehmen.
Die kapitalistische Produktionsweise mit weit ausgreifenden Produktionsumwegen, wie wir sie kennen und der wir allein jenen Wohlstand verdanken, der es möglich macht, dass auf der Erde heute viel mehr Menschen leben als in der vorkapitalistischen Zeit, erfordert die Geldrechnung, die der Sozialismus nicht kennen kann. Vergebens haben sich sozialistische Schriftsteller bemüht, zu zeigen, wie man auch ohne die Geld- und Preisrechnung auskommen könnte. Alle ihre Versuche in dieser Hinsicht sind gescheitert.
Die Leitung einer sozialistischen Gesellschaft wäre also vor eine Aufgabe gestellt, die sie unmöglich lösen könnte. Sie wäre nicht imstande, zu entscheiden, welche von den unzähligen möglichen Verfahrensweisen die rationellste ist. So würde die sozialistische Wirtschaft zu einem Chaos werden, in dem schnell und unaufhaltsam eine allgemeine Verarmung und ein Zurücksinken in die Primitivität unserer Vorfahren eintreten müssten.
Das folgerichtig bis ans Ende durchgeführte sozialistische Ideal würde uns eine Gesellschaftsordnung bescheren, in der alle Produktionsmittel im Eigentum der Volksgesamtheit stehen. Die Produktion liegt ganz in der Hand der Regierung, der gesellschaftlichen Zentralgewalt. Sie allein bestimmt dann, was und wie erzeugt werden und in welcher Weise das gebrauchsfertige Produkt zur Verteilung gelangen soll.
Es ist ziemlich nebensächlich, ob wir uns diesen sozialistischen Zukunftsstaat demokratisch oder anders eingerichtet vorstellen. Auch ein demokratisch geordnetes sozialistisches Staatswesen müsste einen straff organisierten Beamtenkörper darstellen, bei dem jedermann, von der obersten Spitze abgesehen, Beamter und Gehorchender ist, mag er auch auf der anderen Seite als Wähler an der Bildung des zentralen Willens in irgendeiner Weise mitwirken.
Wir dürfen ein derartiges sozialistisches Staatswesen nicht mit den noch so großen Staatsbetrieben vergleichen, die wir in den letzten Jahrzehnten in Europa, besonders in Deutschland und in Russland, haben entstehen sehen. Alle diese Staatsbetriebe bestehen nämlich neben dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln. Sie stehen mit Unternehmungen, die Kapitalisten besitzen und führen, im Austauschverkehr und empfangen von diesen Betrieben mannigfache Anregungen, die ihren Betrieb beleben.
Staatsbahnen z. B. werden von ihren Lieferanten, den Fabriken von Lokomotiven, Wagen, Signalanlagen und anderen Betriebsmitteln, mit den Einrichtungen versehen, die sich anderwärts im kapitalistischen Eisenbahnbetrieb bewährt haben. Von hier aus empfangen sie den Antrieb, Neuerungen durchzuführen, um sich dem Fortschritt der Technik und der Wirtschaftsweise anzupassen, der um sie herum vor sich geht.
Es ist bekannt, dass die staatlichen und städtischen Betriebe im Großen und Ganzen versagt haben, dass sie teuer und unzweckmäßig arbeiten und Zuschüsse aus Steuergeldern in Anspruch nehmen müssen, um sich nur überhaupt erhalten zu können. Dort freilich, wo der öffentliche Betrieb eine Monopolstellung einnimmt – wie es z. B. meist bei den städtischen Verkehrs- und Beleuchtungsanlagen der Fall ist -, müssen sich die schlechten Geschäftserfolge nicht immer in einem sichtbaren finanziellen Misserfolg der Gebarung äußern. Es kann unter Umständen die Möglichkeit vorhanden sein, sie dadurch zu verdecken, dass man unter Ausnutzung der dem Monopolisten zustehenden Möglichkeit, den Preis für Produkte und Darbietungen dieser Unternehmungen soweit erhöht, dass sie trotz unwirtschaftlicher Betriebsführung noch rentabel sind. Die Minderergiebigkeit der sozialistischen Produktionsweise äußert sich hier nur anders und ist nicht so leicht zu erkennen wie sonst; im Wesen aber bleibt die Sache dieselbe.
Doch alle diese Versuche sozialistischer Betriebsführung von Unternehmungen geben uns keine Anhaltspunkte dafür, zu beurteilen, was es bedeuten würde, wenn das sozialistische Ideal der Vergesellschaftung aller Produktionsmittel erreicht werden sollte. Im sozialistischen Zukunftsstaat, in dem es nur noch Sozialismus, nicht auch noch neben dem Sozialismus freie Betätigung von Privateigentümern geben wird, wird den Leitern der sozialistischen Wirtschaft jenes Richtmaß fehlen, das der Markt und die Marktpreise für alle Wirtschaft abgeben.
Dadurch, dass auf dem Markte, auf dem alle Güter und Dienstleistungen zum Austausch gelangen, sich Austauschrelationen für jedes Gut feststellen lassen, die in Geld ausgedrückt werden, gibt es in der auf dem Privateigentum beruhenden Gesellschaftsordnung die Möglichkeit, durch Rechnung das Ergebnis alles wirtschaftlichen Tun und Lassen zu kontrollieren. Jede wirtschaftliche Tätigkeit lässt sich durch die Buchhaltungs- und Rentabilitätsrechnung auf ihre gesellschaftliche Ergiebigkeit prüfen.
Es wird noch zu zeigen sein, dass die Mehrzahl der öffentlichen Betriebe von der Rentabilitätsrechnung nicht den Gebrauch machen kann, den das private Unternehmen macht. Doch immerhin gibt die Geldrechnung auch dem Staats- und Gemeinunternehmen noch gewisse Anhaltspunkte zur Orientierung über Erfolg oder Misserfolg.
Einer vollkommen sozialistischen Wirtschaftsordnung wird diese Möglichkeit gänzlich fehlen, da es in ihr kein Privateigentum an den Produktionsmitteln, daher auch keinen Austausch von Produktionsmitteln auf dem Markte und mithin weder Geldpreise noch Geldrechnung geben kann. Die Generalleitung einer rein sozialistischen Gesellschaft wird daher kein Mittel in der Hand haben, um die Aufwendungen, die jede einzelne Produktion erfordert, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Durch die Gegenüberstellung von verschiedenartigen Naturalausgaben und Naturalersparungen vermag man hier nicht zum Ziele zu kommen.
Wenn man keine Möglichkeit hat, Arbeitsstunden verschieden qualifizierter Arbeit, Eisen, Kohle, Baumaterial jeder Art, Maschinen und andere Dinge, die Bau und Betrieb von Unternehmungen erfordern, auf einen gemeinsamen Ausdruck zu bringen, dann kann man die Rechnung nicht durchführen.
Kalkulation ist nur möglich, wenn man alle in Betracht kommenden Güter auf Geld zurückzuführen vermag. Gewiss, die Geldrechnung hat ihre Unvollkommenheiten und ihre schweren Mängel, aber wir haben eben nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen; für die praktischen Zwecke des Lebens reicht die Geldrechnung eines gesunden Geldwesens immerhin aus. Verzichten wir auf sie, dann wird jeder Wirtschaftskalkul schlechthin unmöglich.
Das ist der entscheidende Einwand, den der Nationalökonom gegen die Möglichkeit sozialistischer Gesellschaftsordnung erhebt: dass sie nämlich auf jene geistige Arbeitsteilung Verzicht leisten muss, die in der Mitwirkung aller Unternehmer, Kapitalisten, Grundbesitzer und Arbeiter als Produzenten und als Konsumenten an der Bildung der Marktpreise liegt. Ohne sie aber ist Rationalität, d. i. Rechenbarkeit der Wirtschaft, nicht denkbar.