„Die Nationalökonomie hat die Folgen des Interventionismus und des Staats- und Kommunal-Sozialismus genau so vorausgesagt wie sie eingetroffen sind. Alle diese Warnungen wurden mißachtet. Seit fünfzig oder sechzig Jahren ist die Politik der europäischen Staaten antikapitalistisch und antiliberal.“
Ludwig von Mises, Mises.de
„Der internationale Kapitalismus und die Krise.“, 1932
Fast allgemein wird heute die Auffassung vertreten, mit der Wirtschaftskrise der letzten Jahre sei das Ende des Kapitalismus gekommen. Der Kapitalismus habe versagt, er erweise sich unfähig, die Aufgaben der Wirtschaft zu erfüllen, und so bleibe denn der Menschheit, wenn sie nicht untergehen wolle, nichts übrig als der Übergang zur Planwirtschaft, zum Sozialismus.
Dieser Standpunkt ist durchaus nicht neu. Die Sozialisten haben immer behauptet, daß die Wirtschaftskrisen das notwendige Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise seien und daß es kein anderes Mittel gäbe, sie dauernd zu beheben, als den Übergang zum Sozialismus. Wenn diese Behauptungen heute mit stärkerem Nachdruck vertreten werden und in der Öffentlichkeit breiteren Widerhall finden, so ist das nicht darauf zurückzuführen, daß die Krise heute schwerer ist und länger anhält als ihre Vorgänger, vielmehr vor allem dem Umstände zuzuschreiben, daß die öffentliche Meinung heute ungleich stärker von sozialistischen Anschauungen beherrscht wird als in früheren Jahrzehnten.
I.
Als es noch keine Nationalökonomie gab, glaubte man, daß dem, der Macht hat und gewillt ist, sie zu gebrauchen, alles gelingen könne. Priester empfahlen dem Mächtigen im Interesse seines Seelenheils und im Hinblick auf die Vergeltung im Jenseits Mäßigung im Gebrauche der Macht; man verkannte auch nicht die Grenzen, die die naturgegebenen Bedingungen des menschlichen Lebens und Wirkens dieser Macht zogen, doch man hielt sie für schrankenlos und allvermögend auf dem Gebiete des Gesellschaftlichen.
Die Begründung der Gesellschaftswissenschaft, das Werk einer langen Reihe hoher Geister, aus der die Namen David Hume und Adam Smith am hellsten strahlen, hat diese Auffassung zerstört. Man entdeckte, daß gesellschaftliche Macht ein Geistiges und nicht, wie man gemeint hatte, ein Materielles und im groben Sinne des Wortes Reales sei. Und man erkannte, daß es eine notwendige Verbundenheit der Markterscheinungen gibt, die die Macht nicht zu zerreißen vermag. Man erfuhr damit, daß auch im Gesellschaftlichen etwas wirksam ist, das der Mächtige nicht beugen kann und dem er sich, wenn er Erfolg haben will, geradeso fügen muß wie den Naturgesetzen. In der Geschichte des menschlichen Denkens und der Wissenschaften gibt es keine größere Entdeckung.
Von der Erkenntnis der Marktgesetze ausgehend, zeigt die Nationalökonomie, was für eine Bewandtnis es mit den Eingriffen der gesellschaftlichen Macht- und Gewaltfaktoren in die Marktvorgänge hat. Der isolierte Eingriff kann die Absicht, die die Obrigkeit mit seiner Setzung anstrebt, nicht erreichen und muß zu Wirkungen führen, die vom Standpunkt der Obrigkeit nicht erwünscht sind. Er ist daher im Sinne seiner Urheber selbst zwecklos und schädlich. Von dieser Erkenntnis aus gelangt man dann, wenn man das Handeln nach den Ergebnissen des wissenschaftlichen Denkens ausrichten will — und wir denken doch nicht nur, weil wir Erkenntnisse um ihrer selbst willen suchen, sondern auch, weil wir unser Handeln so einrichten wollen, daß wir die von uns angestrebten Ziele erreichen — unausweichlich zu jener Ablehnung dieser Eingriffe als überflüssig, nutzlos und schädlich, die die liberale Lehre kennzeichnet. Der Liberalismus will nicht Wertmaßstäbe in die Wissenschaft hineintragen; er will aus der Wissenschaft eine Bussole für das Handeln herholen. Er nimmt die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung, um die Gesellschaft so aufzubauen, daß sie die Zwecke, zu deren Erreichung sie dienen soll, am wirksamsten zu verwirklichen vermag. Nicht durch den Endzweck, dem sie zustreben, sondern durch die Mittel, die sie zur Erreichung des gemeinsamen Zweckes verwenden wollen, unterscheiden sich die wirtschaftspolitischen Parteien. Die Liberalen sind der Meinung, daß das Sondereigentum an den Produktionsmitteln der geeignetste Weg ist, um Reichtum für alle zu schaffen, weil sie Sozialismus für undurchführbar halten und weil sie von dem System des Interventionismus, das nach der Auffassung seiner Verfechter in der Mitte zwischen Kapitalismus und Sozialismus steht, glauben, daß es die Zwecke, die es nach der Absicht seiner Freunde erreichen soll, nicht erreichen kann.
Diese Auffassung des Liberalismus hat erbitterte Gegnerschaft gefunden. Doch es ist den Gegnern des Liberalismus nicht gelungen, die ihm zugrunde liegende Theorie und seine Nutzanwendung dieser Theorie zu widerlegen. Sie haben sich gegen die zermalmende Kritik, die die Liberalen an ihren Entwürfen geübt haben, nicht durch logische Zurückweisung, sondern durch Ausflüchte zu wehren gesucht. Die Sozialisten haben sich dieser Kritik dadurch zu entziehen vermeint, daß der Marxismus Untersuchungen über die Einrichtung und die Wirksamkeit eines sozialistischen Gemeinwesens in Acht und Bann getan hat; sie fuhren fort, das sozialistische Reich der Zukunft als ein Paradies auf Erden zu preisen, lehnten es aber ab, sich in eine Erörterung der Einzelheiten ihres Planes einzulassen. Die Interventionisten wählten einen anderen Weg. Sie bestritten mit unzureichender Begründung die Allgemeingültigkeit der nationalökonomischen Theorie. Außerstande, die Nationalökonomie logisch zu bekämpfen, konnten sie sich auf nichts anderes berufen als auf jenes „sittliche Pathos“, von dem die Einladung zur Eisenacher Gründungsversammlung des Vereins für Sozialpolitik sprach. Gegen Logik setzten sie Ethik, gegen Theorie Ressentiment, gegen Argumente den Hinweis auf den Willen des Staates.
Die Nationalökonomie hat die Folgen des Interventionismus und des Staats- und Kommunal-Sozialismus genau so vorausgesagt wie sie eingetroffen sind. Alle diese Warnungen wurden mißachtet. Seit fünfzig oder sechzig Jahren ist die Politik der europäischen Staaten antikapitalistisch und antiliberal. Vor mehr als vierzig Jahren schrieb schon Sidney Webb (Lord Passfield):
„Man kann schon jetzt mit vollem Recht behaupten, daß die moderne sozialistische Philosophie nichts anderes ist als die bewußte und bestimmte Anerkennung von gesellschaftlichen Grundsätjen, die zum großen Teile schon unbewußt befolgt werden. Die ökonomische Geschichte dieses Jahrhunderts ist eine fast ununterbrochene Aufzählung der Fortschritte zum Sozialismus“.
Das war in den Anfängen dieser Entwicklung und in England, wo der Liberalismus die antikapitalistische Wirtschaftspolitik am längsten aufzuhalten vermocht hat. Seither hat die interventionistische Politik die gewaltigsten Fortschritte erzielt. Allgemein wird heute die Auffassung vertreten, daß wir in einem Zeitalter leben, in dem — als Vorstufe des beglückenden sozialistischen Gemeinwesens, das da kommen soll — „gebundene Wirtschaft“ herrscht.
Nun, da genau das eingetroffen ist, was die Nationalökonomie vorausgesagt hat, da die Früchte der antikapitalistischen Wirtschaftspolitik sichtbar geworden sind, ertönt allenthalben der Ruf: das ist der Niedergang des Kapitalismus, das kapitalistische System hat versagt!
Für keine der Einrichtungen, die der Wirtschaftspolitik von heute das Gepräge geben, ist der Liberalismus verantwortlich zu machen. Er war gegen die Verstaatlichung und Verstadtlichung von Unternehmungen, die sich nun als eine Katastrophe für den öffentlichen Haushalt und als ein Quell schmutziger Korruption erweisen, er war gegen die Versagung des Schubes der Arbeitswilligen und gegen die Auslieferung der Staatsmacht an die Gewerkschaften, gegen die Arbeitslosenunterstützung, die die Arbeitslosigkeit zu einer Dauer- und Massenerscheinung macht, gegen die Sozialversicherung, die die Versicherten zu Querulanten, Simulanten und Neurasthenikern macht, gegen die Zölle (und damit implicite gegen Kartelle), gegen die Beschränkung der Freizügigkeit, gegen die Übersteuerung und gegen die Inflation, gegen die Rüstungen, gegen Kolonialerwerb, gegen die Unterdrückung anderssprachiger Völker, gegen Imperialismus und gegen Krieg. Er hat hartnäckigen Widerstand gegen die Politik der Kapitalaufzehrung geleistet. Und nicht der Liberalismus hat die bewaffneten Parteitruppen geschaffen, die nur auf die günstige Gelegenheit warten, den Bürgerkrieg zu beginnen.
II.
Die Argumentation, mit der man dazu gelangt, die Verantwortlichkeit des Kapitalismus wenigstens für einen Teil dieser Dinge zu konstruieren, geht davon aus, daß Unternehmer und Kapitalisten nicht mehr liberal sind, sondern interventionistisch und etatistisch. Die Tatsache ist richtig; die Schlüsse, die man aus ihr ziehen will, sind verkehrt. Diese Schlußfolgerungen gehen von der ganz unhaltbaren marxistischen Auffassung aus, daß Unternehmer und Kapitalisten ihre Sonderklasseninteressen in der Blütezeit des Kapitalismus durch den Liberalismus wahrgenommen haben, jetzt aber, in der Spät- und Niedergangszeit des Kapitalismus, durch den Interventionismus wahrnehmen. Damit sei erwiesen, daß die „gebundene Wirtschaft“ des Interventionismus geschichtlich notwendig sei als Wirtschaft der Phase des Kapitalismus, in der wir uns heute befinden. Doch die Auffassung der klassischen Nationalökonomie und des Liberalismus als Ideologie (im marxistischen Sinne des Wortes) der Bourgeoisie ist eine der vielen schiefen Lehren des Marxismus. Wenn Unternehmer und Kapitalisten um 1800 in England liberal dachten und um 1930 in Deutschland interventionistisch, etatistisch und sozialistisch denken, so liegt der Grund darin, daß auch Unternehmer und Kapitalisten von den herrschenden Ideen der Zeit erfaßt werden. Sonderinteressen, die durch Interventionismus wahrgenommen und durch Liberalismus verletzt werden, hatten die Unternehmer 1800 nicht weniger als 1930.
Der große Unternehmer wird heute oft als „Wirtschaftsführer“ bezeichnet. Die kapitalistische Gesellschaft kennt keine „Wirtschaftsführer“. Darin liegt eben der charakteristische Unterschied zwischen der sozialistischen Wirtschaft auf der einen Seite und der kapitalistischen Wirtschaft auf der anderen Seite, daß in dieser Besitzer von Produktionsmitteln und Unternehmer keiner anderen Führung folgen als der des Marktes. Die Gewohnheit, die Leiter großer Unternehmungen als Wirtschaftsführer zu bezeichnen, gibt schon den Hinweis darauf, daß man in diese Stellungen heute gewöhnlich nicht durch wirtschaftliche Erfolge, sondern auf anderem Wege gelangt.
Im interventionistischen Staat ist es für den Erfolg eines Unternehmens nicht mehr von entscheidender Wichtigkeit, daß der Betrieb so geführt wird, daß er die Bedürfnisse der Verbraucher am besten und billigsten befriedigt; viel wichtiger ist es, daß man so „gute Beziehungen“ zu den maßgebenden politischen Faktoren hat, daß die Interventionen zum Vorteil und nicht zum Nachteil des Unternehmens ausschlagen. Ein paar Mark mehr Zollschutz für die Erzeugnisse des Unternehmens, ein paar Mark weniger Zollschutz für die Halbfabrikate, die es verarbeitet, können dem Unternehmen mehr nützen als die größte Umsicht in der Betriebsführung. Eine Unternehmung mag noch so gut geleitet sein, sie muß zu Grunde gehen, wenn sie es nicht versteht, ihre Interessen bei der Erstellung der Zollsätze, bei den Lohnverhandlungen vor Schlichtungsausschüssen und bei den Kartellbehörden zu wahren. „Beziehungen“ zu haben wird wichtiger als gut und billig zu erzeugen. So gelangen denn an die Spitze der Unternehmungen nicht mehr Männer, die es verstehen, die Betriebe zu organisieren und der Produktion jene Richtung zu weisen, die die Marktlage verlangt, sondern Männer, die „oben“ und „unten“ gut angeschrieben sind, Männer, die es verstehen, mit der Presse und mit allen politischen Parteien, besonders mit den radikalen, so gut zu leben, daß sie und ihr Betrieb keinen Anstoß erregen. Das ist jene Klasse von Generaldirektoren, die öfter mit Staatswürdenträgern und Parteiführern verhandeln als mit jenen, von denen sie einkaufen oder an die sie verkaufen.
Da es sich für die Unternehmungen darum handelt, politische Gefälligkeiten zu erhalten, müssen sie selbst mit Gefälligkeiten an die Politiker zahlen. Es gibt kein größeres Unternehmen, das nicht in den letzten Jahren sehr beträchtliche Summen aufwenden mußte für Geschäfte, bei denen es von vornherein klar war, daß sie keinen Ertrag abwerfen werden, sondern ungeachtet des zu erwartenden Verlustes aus politischen Gründen gemacht werden mußten. Von den Widmungen für geschäftsfremde Zwecke — für Wahlfonde, öffentliche Wohlfahrtseinrichtungen u. dgl. — sei dabei ganz abgesehen.
Immer stärker machen sich Kräfte geltend, die darauf hinarbeiten, die Leitungen der großen Banken, Industriekonzerne und Aktiengesellschaften von den Aktionären unabhängig zu machen. Die etatistischen Schriftsteller haben diese durch die Politik geförderte „Tendenz der Großunternehmungen, sich selbst zu sozialisieren“, d. h. andere Interessen als die Rücksicht „auf die höchstmöglichen Gewinne für die Aktionäre“ in der Verwaltung der Unternehmungen entscheiden zu lassen, als Zeichen dafür, daß wir den Kapitalismus schon überwunden haben, begrüßt. Im Zuge der Reform des deutschen Aktienrechts treten bereits Bestrebungen zutage, auch rechtlich den Vermögensinteressen des Aktionärs das Interesse und Wohl des Unternehmens voranzustellen, nämlich „seine wirtschaftliche, juristische und soziologische Eigen- und Dauerwertigkeit und seine Unabhängigkeit von wechselnden Majoritäten wechselnder Aktionäre“.
Die Leiter der großen Unternehmungen fühlen sich heute, gestützt auf den hinter ihnen stehenden Einfluß des Staates und der durch und durch interventionistischen öffentlichen Meinung, so stark gegenüber den Aktionären, daß sie glauben, auf deren Interessen keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Sie führen in den Staaten, in denen der Etatismus am stärksten zur Herrschaft gelangt ist — also z. B. in den Sukzessionsstaaten der alten österr.-ung. Monarchie — die Geschäfte der Gesellschaften so unbekümmert um die Rentabilität wie die Leiter öffentlicher Betriebe. Das Ergebnis sind Zusammenbrüche. Die Theorie, die man sich da zurechtgestutzt hat, sagt, diese Unternehmungen seien zu groß, als daß man sie bloß im Hinblick auf die Rentabilität führen dürfe. Diese Auffassung ist außerordentlich bequem, wenn das Ergebnis der Geschäftsführung, die grundsätzlich auf die Rentabilität verzichtet, in der Insolvenz der Unternehmungen zutage tritt. Denn für diesen Augenblick fordert die gleiche Theorie das Eingreifen des Staates zur Stützung der Unternehmungen, die zu groß sind, als daß man sie zu Grunde gehen lassen dürfe.
III.
Es ist wahr, es ist dem Sozialismus und dem Interventionismus noch nicht gelungen, die kapitalistische Wirtschaft ganz zu vernichten. Wäre es schon so weit, so würden wir Europäer, nach Jahrhunderten des Wohlstands, wieder erfahren, was Hunger als Massenerscheinung bedeutet. Doch wir haben um uns herum immerhin noch so viel Kapitalismus, daß neue Industrien entstehen und bestehende ihren Produktionsapparat verbessern und erweitern. Alle wirtschaftlichen Fortschritte, die gemacht wurden und gemacht werden, gehen von dem aus, was noch an kapitalistischer Wirtschaft in unserer Gesellschaft bestehen geblieben ist. Aber diese Wirtschaft wird beständig durch die Eingriffe der Obrigkeit gestört und muß einen sehr beträchtlichen Teil ihrer Erträgnisse abgeben, um die Minderergiebigkeit der öffentlichen Unternehmungen zu decken.
Die Krise, unter der die Welt heute leidet, ist die Krise des Interventionismus und des Staats- und Kommunalsozialismus, kurz: der antikapitalistischen Politik. Die kapitalistische Gesellschaft wird, darüber besteht keine Meinungsverschiedenheit, durch das Spiel des Marktmechanismus gesteuert. Die Marktpreise bringen Nachfrage und Angebot zur Deckung und entscheiden über Richtung und Umfang der Produktion. Vom Markte her empfängt die kapitalistische Wirtschaft ihren Sinn. Wird die Funktion des Marktes als Regulator der Produktion dauernd durch die Wirtschaftspolitik unterbunden, indem man Preise, Löhne und Zinssätze anders zu gestalten sucht als der Markt sie bilden muß, dann gelangt man eben zur Krise.
Nicht Bastiat hat versagt, sondern Marx und Schmoller.