Ohne den Kapitalismus würden die Zentralplaner wohl immer noch in Höhlen hausen, und dennoch verachten sie nichts mehr als die Vertragsgesellschaft und schieben der Freiheit wie auch dem Kapitalismus die Schuld für all die Dinge in die Schuhe, die letztlich nur auf die von ihnen befürwortete staatliche Gewalt zurückzuführen sind
Ludwig von Mises, „Liberalismus“, 1927
Auszüge aus der Einleitung
Der Rationalismus
Man pflegt es dem Liberalismus weiter zum Vorwurf zu machen, dass er rationalistisch sei. Er wolle alles vernünftig regeln und verkenne dabei, dass im menschlichen Dasein die Gefühle und überhaupt das Irrationale – das Unvernünftige – einen großen Spielraum einnehmen und wohl auch einnehmen müssen.
Nun, der Liberalismus verkennt ganz und gar nicht, dass die Menschen auch unvernünftig handeln. Würden die Menschen ohnehin immer vernünftig handeln, dann wäre es wohl überflüssig, sie zu ermahnen, in ihrem Handeln die Vernunft zur Richtschnur zu nehmen. Der Liberalismus sagt nicht: die Menschen handeln immer klug, sondern: sie sollten – in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse – stets klug handeln. Und das Wesen des Liberalismus ist gerade das, dass er die Vernunft in der Politik zu der Geltung bringen will, die man ihr unbestritten auf allen anderen Gebieten menschlichen Handelns einräumt.
Wenn jemand seinem Arzte, der ihm vernünftige – d. h. hygienische -Lebensweise – empfiehlt, zur Antwort gibt: „Ich weiß, dass Ihre Ratschläge vernünftig sind; meine Gefühle verbieten es mir aber, sie zu befolgen; ich will eben – mag es auch unvernünftig sein – gerade das tun, was meiner Gesundheit schädlich ist“, dann wird es wohl kaum jemand geben, der dem Lob spenden wird. Was immer wir auch im Leben anfangen, um ein Ziel, das wir uns gesetzt haben, zu erreichen, wir werden trachten, es vernünftig zu tun.
Wer Eisenbahngeleise übersetzen will, wird dafür nicht gerade den Augenblick wählen, da ein Zug über die Übergangsstelle fährt; wer einen Knopf annähen will, wird es vermeiden, mit der Nadel in den Finger zu stechen. Auf jedem Gebiete seiner Betätigung hat der Mensch eine Kunstlehre – Technik – ausgebildet, die zeigt, wie man zu verfahren hat, wenn man nicht unvernünftig sein will. Allgemein wird anerkannt, dass man gut daran tut, sich die Technik anzueignen, die man im Leben brauchen kann, und wer sich auf ein Gebiet begibt, dessen Technik er nicht beherrscht, wird Stümper gescholten.
Nur in der Politik soll es, meint man, anders sein. Hier soll nicht die Vernunft entscheiden, sondern Gefühle und Impulse. Über die Frage, wie man es anstellen muss, um für die Abend- und Nachtstunden gute Beleuchtung zu schaffen, wird im allgemeinen nur mit Vernunftgründen gesprochen. Sobald man aber in der Erörterung zu dem Punkt gelangt, bei dem zu entscheiden ist, ob die Beleuchtungsanlage von Privaten oder von der Stadt betrieben werden soll, will man die Vernunft nicht länger gelten lassen; hier soll das Gefühl, soll die Weltanschauung, soll – kurz gesagt – die Unvernunft den Ausschlag geben. Wir fragen vergebens: warum?
Die Einrichtung der menschlichen Gesellschaft nach einem möglichst zweckmäßigen Schema ist eine ganz prosaische und nüchterne Sache, nicht anders, als etwa die Erbauung einer Bahn oder die Erzeugung von Tuch oder von Möbeln. Die Staats- und Regierungsangelegenheiten sind zwar wichtiger als alle anderen Fragen der menschlichen Betätigung, weil die gesellschaftliche Ordnung die Grundlage für alles Übrige abgibt und gedeihliches Wirken eines jeden einzelnen nur in einer zweckmäßig gebildeten Gemeinschaft möglich ist.
Aber wie hoch sie auch stehen mögen, sie bleiben Menschenwerk und sind daher nach den Regeln der menschlichen Vernunft zu beurteilen. Wie in allen übrigen Dingen unseres Handelns, so ist auch in Dingen der Politik Mystik nur von Übel. Unser Fassungsvermögen ist sehr beschrankt; wir dürfen nicht hoffen, jemals die letzten und tiefsten Weltgeheimnisse zu entschleiern. Doch der Umstand, dass wir über Sinn und Zweck unseres Daseins nie ins Klare kommen können, hindert uns nicht, Vorkehrungen zu treffen, um ansteckenden Krankheiten auszuweichen und uns zweckmäßig zu kleiden und zu ernähren, und er soll uns nicht hindern, die Gesellschaft so zu gestalten, dass die irdischen Ziele, die wir anstreben, am zweckmäßigsten erreicht werden können.
Auch Staat und Rechtsordnung, Regierung und Verwaltung sind nicht zu hoch, zu gut, zu vornehm, als dass wir sie nicht in den Kreis unseres vernünftigen Denkens ziehen sollten. Die Probleme der Politik sind Probleme der gesellschaftlichen Technik, und ihre Lösung muss auf demselben Wege und mit denselben Mitteln versucht werden, die uns bei der Lösung anderer technischer Aufgaben zur Verfugung stehen: durch vernünftige Überlegung und durch Erforschung der gegebenen Bedingungen. Alles, was der Mensch ist und was ihn über das Tier hinaushebt, dankt er der Vernunft. Warum sollte er gerade in der Politik auf den Gebrauch der Vernunft verzichten und sich dunkeln und unklaren Gefühlen und Impulsen anvertrauen?
Das Ziel des Liberalismus
Weit verbreitet ist die Meinung, der Liberalismus unterscheide sich von anderen politischen Richtungen dadurch, dass er die Interessen eines Teiles der Gesellschaft – der Besitzenden, der Kapitalisten, der Unternehmer – über die Interessen der anderen Schichten stelle und vertrete. Diese Behauptung ist ganz und gar verkehrt. Der Liberalismus hat immer das Wohl des Ganzen, nie das irgendwelcher Sondergruppen im Auge gehabt. Das wollte die berühmte Formel der englischen Utilitarier: „Das größte Gluck der größten Zahl“ in einer allerdings nicht sehr geschickten Weise ausdrücken. Geschichtlich war der Liberalismus die erste politische Richtung, die dem Wohle aller, nicht dem besonderer Schichten dienen wollte.
Vom Sozialismus, der ebenfalls vorgibt, das Wohl aller anzustreben, unterscheidet sich der Liberalismus nicht durch das Ziel, dem er zustrebt, sondern durch die Mittel, die er wählt, um dieses letzte Ziel zu erreichen. Wenn jemand behauptet, dass der Erfolg liberaler Politik die Begünstigung von Sonderinteressen bestimmter Schichten der Gesellschaft sei oder sein müsse, so ist das eine Frage, über die sich immerhin sprechen lässt.
Es ist eine der Aufgaben, die sich unsere Darstellung des liberalen Programms setzt, zu zeigen, dass dieser Vorwurf in keiner Weise gerechtfertigt ist. Aber man kann denjenigen, der ihn erhebt, nicht von vornherein der Illoyalität zeihen; es mag sein, dass er seine – unserer Auffassung nach unrichtige – Behauptung im besten Glauben aufstellt. In jedem Fall gibt, wer in dieser Weise gegen den Liberalismus auftritt, zu, dass die Absichten des Liberalismus lauter sind und dass er nichts anderes will, als das, was er zu wollen behauptet.
Ganz anders steht es mit jenen Kritikern des Liberalismus, die dem Liberalismus vorwerfen, dass er nicht der Allgemeinheit, sondern den Sonderinteressen einzelner Schichten dienen will. Sie sind illoyal und unwissend zugleich. Indem sie diese Kampfweise wählen, zeigen sie, dass sie sich innerlich der Schwäche ihrer eigenen Sache wohl bewusst sind. Sie greifen zu den vergifteten Waffen, weil sie anders keinen Erfolg erhoffen können.
Wenn der Arzt dem Kranken, der nach einer ihm schädlichen Speise begehrt, die Verkehrtheit seines Wunsches zeigt, wird niemand so töricht sein zu sagen: „Der Arzt will nicht das Wohl des Kranken; wer dem Kranken wohl will, muss ihm den Genuss der schmackhaften Speise vergönnen.“ Jedermann wird es verstehen, dass der Arzt dem Kranken empfiehlt, auf die Annehmlichkeit, die der Genuss der schädlichen Speise gewährt, zu verzichten, um die Schädigung des Körpers zu meiden.
Doch im gesellschaftlichen Leben will man es anders haben. Wenn der Liberale bestimmte volkstümliche Maßnahmen widerrät, weil er von Ihnen schädliche Folgen erwartet, dann schilt man ihn volksfeindlich und preist den Demagogen, der ohne Rucksicht auf die späteren schädlichen Folgen das empfiehlt, was im Augenblick zu nützen scheint. Das vernünftige Handeln unterscheidet sich vom unvernünftigen Handeln dadurch, dass es vorläufige Opfer bringt; diese vorläufigen Opfer sind nur Scheinopfer, da sie durch den Erfolg, der später eintritt, aufgewogen werden. Wer die wohlschmeckende, aber ungesunde Speise meidet, bringt bloß ein vorläufiges, ein scheinbares Opfer; der Erfolg – das Nichteintreten der Schädigung – zeigt, dass er nicht verloren, sondern gewonnen hat.
Doch um so zu handeln, braucht es Einsicht in die Folgen des Handelns. Das macht sich der Demagoge zunutze. Er tritt dem Liberalen, der das vorläufige Scheinopfer fordert, entgegen, schilt ihn hartherzig und volksfeindlich. Sich selbst rühmt der Demagoge als Menschen- und Volksfreund. Er weiß die Herzen der Zuhörer zu Tränen zu rühren, wenn er seine Vorschläge durch den Hinweis auf Not und Elend empfiehlt.
Die antiliberale Politik ist Kapitalaufzehrungspolitik. Sie empfiehlt, die Gegenwart auf Kosten der Zukunft reichlicher zu versorgen. Das ist ganz dasselbe, was sich in dem Falle des Kranken, von dem wir gesprochen. haben, begibt; in beiden Fallen steht einem reichlicheren Genuss im Augenblick schwerer Nachteil in der Zukunft gegenüber. Wenn man angesichts dieses Dilemmas davon spricht, dass Hartherzigkeit gegen Philanthropie steht, dann ist man unehrlich und verlogen. Dieser unser Vorwurf richtet sich nicht nur gegen die Politiker des Alltags und gegen die Presse der antiliberalen Parteien. Nahezu alle „sozialpolitischen“ Schriftsteller haben sich dieser unehrlichen Kampfweise bedient.
Dass es Not und Elend in der Welt gibt, ist kein Argument gegen den Liberalismus, wie die Beschränktheit des durchschnittlichen Zeitungslesers anzunehmen gewillt ist. Der Liberalismus will ja gerade Not und Elend beseitigen und hält die Mittel, die er vorschlägt, für die einzig tauglichen zur Erreichung dieses Zieles. Wer glaubt, dass er einen besseren oder auch nur einen anderen Weg zu diesem Ziele kennt, der möge es beweisen. Aber die Behauptung, dass die Liberalen nicht das Wohl aller Glieder der Gesellschaft, sondern das einer Sondergruppe anstreben ersetzt diesen Beweis keineswegs.
Die Tatsache, dass es Not und Elend gibt, wäre selbst dann kein Beweis gegen den Liberalismus, wenn die Welt heute liberale Politik befolgen würde; noch immer bliebe ja die Frage offen, ob nicht bei anderer Politik mehr Not und Elend herrschen würden. Angesichts des Umstandes, dass heute überall durch antiliberale Politik das Funktionieren der Einrichtung des Sondereigentums gehemmt und behindert wird, ist es natürlich ganz verkehrt, daraus, dass in der Gegenwart nicht alles so ist, wie man es wünschen würde, irgend etwas gegen die Richtigkeit der liberalen Grundsatze schließen zu wollen.
Was Liberalismus und Kapitalismus geleistet haben, erkennt man, wenn man die Gegenwart mit den Zuständen des Mittelalters oder der ersten Jahrhunderte der Neuzeit vergleicht. Was sie leisten könnten, wenn man sie nicht stören würde, kann man nur durch theoretische Überlegungen erschließen.
Liberalismus und Kapitalismus
Eine Gesellschaft, in der die liberalen Grundsätze durchgeführt sind pflegen wir die kapitalistische Gesellschaft zu nennen, und den Gesellschaftszustand als Kapitalismus zu bezeichnen. Da wir überall in der Wirtschaftspolitik nur mehr oder weniger Annäherung an den Liberalismus haben, so gibt uns der Zustand, der heute in der Welt herrscht, nur ein unvollkommenes Bild von dem, was vollausgebildeter Kapitalismus bedeuten und leisten konnte.
Aber immerhin ist es durchaus gerechtfertigt, unser Zeitalter das Zeitalter des Kapitalismus zu nennen, weil alles das, was den Reichtum unserer Zeit geschaffen hat, auf die kapitalistischen Institutionen zurückzuführen ist. Nur dem, was von liberalen Ideen in unserer Gesellschaft lebendig ist, was unsere Gesellschaft an Kapitalismus enthält, danken wir es, dass die große Masse unserer Zeitgenossen eine Lebenshaltung führen kann, die hoch über der steht, die noch vor wenigen Menschenaltern dem Reichen und besonders Begünstigten möglich war.
Die übliche demagogische Phrase stellt das freilich ganz anders dar: Hört man sie, dann könnte man glauben, dass alle Fortschritte der Produktionstechnik ausschließlich einer schmalen Schichte zugute kommen, wohingegen die Massen immer mehr und mehr verelenden. Es bedarf aber nur eines kurzen Augenblickes der Überlegung, um zu erkennen, dass die Ergebnisse aller technischen und industriellen Neuerungen sich in einer Verbesserung der Bedürfnisbefriedigung der Massen auswirken.
Alle Großindustrien, die Endprodukte erzeugen, arbeiten unmittelbar, alle Industrien, die Halbfabrikate und Maschinen erzeugen, mittelbar für das Wohl der breiten Massen. Die großen industriellen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte haben, geradeso wie die großen industriellen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts, die man mit einem nicht gerade glücklich gewählten Worte als „industrielle Revolution“ bezeichnet, in erster Linie eine bessere Befriedigung des Massenbedarfes bewirkt.
Die Entwicklung der Konfektionsindustrie, der mechanischen Schuhwarenerzeugung und der Lebensmittelindustrie sind ihrer ganzen Natur nach den breitesten Massen zugute gekommen; sie haben es bewirkt, dass die Massen heute weit besser genährt und gekleidet sind als je vorher. Aber die Massenerzeugung sorgt nicht nur für Nahrung, Wohnung und Kleidung, sondern auch für andere Bedürfnisse der großen Menge. Die Presse ist geradeso Massenindustrie wie die Filmindustrie, und selbst die Theater und ähnliche Kunststatten werden von Tag zu Tag mehr zu Stätten des Massenbesuches.
Nichtsdestoweniger verbindet man heute, dank einer die Tatsachen auf den Kopf stellenden eifrigen Agitation der antiliberalen Parteien, mit den Begriffen Liberalismus und Kapitalismus die Vorstellung wachsender Verelendung und um sich greifender Pauperisierung der Welt. Zwar konnte es aller Demagogie nicht ganz gelingen, die Ausdrücke liberal und Liberalismus so zu entwerten, wie sie es gerne gewünscht hatte. Man kann sich schließlich nicht darüber hinwegsetzen, dass in diesen Ausdrücken, ungeachtet aller Bemühungen der antiliberalen Agitation, etwas mitschwingt von dem, was jeder gesunde Mensch empfindet, wenn er das Wort Freiheit hört.
Die antiliberale Agitation verzichtet daher darauf, das Wort Liberalismus zu viel in den Mund zu nehmen und zieht es vor, die Schändlichkeiten, die sie dem System andichtet, in Verbindung mit dem Ausdruck Kapitalismus zu bringen. Bei dem Worte Kapitalismus schwingt die Vorstellung eines hartherzigen Kapitalisten mit, der an nichts anderes denkt als an seine Bereicherung, sei sie auch nur durch die Ausbeutung der Mitmenschen möglich.
Dass eine wahrhaft liberal organisierte kapitalistische Gesellschaftsordnung so beschaffen ist, dass für den Unternehmer und Kapitalisten der Weg zum Reichtum ausschließlich über die bessere Versorgung seiner Mitmenschen mit dem, was sie selbst zu benötigen glauben, führt, wird den wenigsten bewusst, wenn sie sich die Vorstellung vom Kapitalisten bilden. Statt von Kapitalismus zu sprechen, wenn man die gewaltigen Fortschritte in der Lebenshaltung der Massen erwähnt, spricht die antiliberale Agitation von Kapitalismus immer nur dann, wenn sie irgendeine jener Erscheinungen erwähnt, die nur möglich wurden, weil der Liberalismus zurückgedrängt wurde.
Dass der Kapitalismus den weiten Massen ein schmackhaftes Genuss- und Nahrungsmittel in der Gestalt des Zuckers zur Verfügung gestellt hat, wird nicht gesagt. Von Kapitalismus wird in Verbindung mit dem Zucker nur dann gesprochen, wenn in einem Lande durch ein Kartell der Zuckerpreis über den Weltmarktpreis erhöht wird. Als ob dies bei Durchführung der liberalen Grundsatze überhaupt denkbar wäre! Im liberal verwalteten Staat, in dem es keine Zölle gibt, wären auch keine Kartelle, die den Preis einer Ware über den Weltmarktpreis hinauftreiben können, denkbar.
Der Gedankengang, auf dem die antiliberale Demagogie dazu gelangt, alle Ausschreitungen und bösen Konsequenzen der antiliberalen Politik gerade dem Liberalismus und Kapitalismus in die Schuhe zu schieben, ist folgender: Man geht davon aus, die Behauptung aufzustellen, die liberalen Grundsatze bezwecken Forderung der Interessen der Kapitalisten und Unternehmer gegen die Interessen der übrigen Schichten der Bevölkerung; Liberalismus sei eine Politik zugunsten der Reichen gegen die Armen.
Nun sieht man, dass zahlreiche Unternehmer und Kapitalisten unter gewissen Voraussetzungen für Schutzzölle, andere wieder, nämlich die Erzeuger von Waffen, für Kriegsrüstungen eintreten, und man ist schnell bei der Hand, dies als kapitalistische Politik zu erklären. In Wahrheit liegt die Sache ganz anders. Der Liberalismus ist keine Politik im Interesse irgendeiner Sonderschicht, sondern eine Politik im Interesse der Gesamtheit. Es ist daher nicht richtig, dass die Unternehmer und Kapitalisten irgendein besonderes Interesse hätten, für den Liberalismus einzutreten. Ihr Interesse, für den Liberalismus einzutreten, ist genau dasselbe, das jeder andere Mensch hat.
Es mag sein, dass in einem einzelnen Fall das Sonderinteresse einiger Unternehmer oder Kapitalisten sich mit dem Programm des Liberalismus deckt; aber immer stehen die Sonderinteressen anderer Unternehmer oder Kapitalisten dagegen. So einfach liegen die Dinge überhaupt nicht, wie die, die überall „Interessen“ und „Interessenten“ wittern, es sich vorstellen.
Dass z. B. ein Staat Eisenzölle einführt, kann man nicht „einfach“ aus dem Umstande erklären, dass dies den Eisenindustriellen nützt. Es gibt im Lande auch anders Interessierte, auch unter den Unternehmern, und jedenfalls sind die Nutznießer des Eisenzolles eine verschwindende Minderheit. Auch Bestechung kann es nicht gewesen sein, denn auch die Bestochenen können nur eine Minderheit sein, und dann: warum bestechen nur die einen, die Schutzzöllner, nicht auch ihre Gegner, die Freihändler? Die Ideologie, -die den Schutzzoll möglich macht, schaffen eben weder die „Interessenten“ noch die von ihnen Gekauften, sondern die Ideologen, die der Welt die Ideen geben, nach denen alles sich.
In unserem Zeitalter, in dem die antiliberalen Ideen herrschen, denken alle antiliberal, so wie vor hundert Jahren die meisten liberal .gedacht haben. Wenn viele Unternehmer heute für Schutzzölle eintreten, so ist das eben nichts anderes als die Gestalt, die der Antiliberalismus bei ihnen annimmt. Mit Liberalismus hat es nichts zu tun.